Editorial von Christoph Cornelißen
Obwohl technische Apparaturen sowie technologische Verfahren und Organisationsmuster den Alltag der Gegenwart immer stärker prägen, wird die Technikgeschichte bislang weder an den Universitäten noch an den Schulen besonders gefördert. Viele Beobachter verstehen darunter immer noch allein die Geschichte technischer Innovationen und ihrer Erfinder, während sich in der Praxis tatsächlich schon seit Jahren eine breite Öffnung zur modernen Sozial- und Kulturgeschichte eingestellt hat. Im Zuge dieses Wandels hat die Technikgeschichte sich von ihrem älteren Fokus auf Artefakte abgekehrt und stattdessen den damit verbundenen sozialen Praktiken zugewandt. Die Wende von der Produkt- zur Konsumgeschichte hatte noch weitere Folgen. Denn sie rückte nicht nur die Nutzer als soziale Konsumenten von Technologien und technischen Produkten in das Visier der historischen Forschung, sondern sie warf ebenso Fragen danach auf, welche Bedeutungszuschreibungen und symbolischen Gehalte mit dem Technikkonsum verbunden waren und sind. Darüber hinaus fragt sie danach, wie unser Wissen mittels der Technik oder technologischer Verfahren präformiert, gesteuert oder auch geordnet wird. Eine ihrer wesentlichen Vorzüge besteht ebenfalls darin, dass sie den technikbestimmten Alltag in das Visier nimmt und darüber neue Fragen nach handlungszwängen und -freiheiten stellt.
Im vorliegenden Themenheft wird das Untersuchungsfeld sowohl theoretisch als auch forschungspraktisch sowie didaktisch vermessen. So führen Detlef Mares und Sonja Petersen in ihrem Einführungsbeitrag anhand ausgewählter Beispiele in die neueren Debatten ein und verbinden dies mit einem Plädoyer für eine größere Beachtung der Technikgeschichte an den Schulen. Martina Heßler wiederum arbeitet in einer eher theoretisch orientierten Perspektive heraus, welche Konsequenzen sich aus dem Wandel der menschlichen Existenz in einer technisierten Welt ergeben und welche Rückwirkungen auf die Lebenswelten des Einzelnen sich beobachten lassen.
De sodann abgedruckten Fallbeispiele heben insgesamt darauf ab, die Potentiale der neueren Technikgeschichte für die historische Forschung des Alltags zu ergründen. So rückt Sonja Petersen den Klavier- und Geigenbau in den Mittelpunkt, um zu zeigen, wie Wissen als Erfahrungswissen auch in einem arbeitsteiligen und teilweise mechanisierten Arbeitsprozess spezifiziert, ja geradezu körperlich gebunden blieb. Während bei ihre Arbeitsroutinen im Mittelpunkt stehen, wendet Monika Röthers ihren Forscherblick auf Phonogeräte in der Bundesrepublik. Ihr Hauptaugenmerk liegt jedoch nicht auf dem Objekt selbst, sondern darauf, wie sich in den langen 1960er Jahren Konsumenten die neue Technik aneigneten. Sie zeigt derart, wie über das Phonogerät Änderungen von Alltagsroutinen bewirkt wurden. Das Interesse von Karsten Uhl wiederum richtet sich auf Personalpraktiken bei dem Kölner Maschinenbauunternehmen Humboldt-Deutz in der NS-Zeit. In diesem Zusammenhang diskutiert er zum einen, wie weit selbst unter dem Vorzeichen der Diktatur der "Eigen-Sinn" der Arbeiter handlungsbestimmt sein konnte, zum anderen, welche politischen Ziele den tatsächlich nachzuweisenden Selbststeuerungen zugrunde lagen. Abschließend gehen Claudia Gottfried und Martin Schmidt am Beispiel der Technik- und Industriemuseen darauf ein, wie ein Ausweg aus dem klassischen Gegenüber der Darstellung und Vermittlung von Technik auf der einen Seite und dem Fokus auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf der anderen Seite gefunden werden könne. Zu diesem Zweck stellen sie drei neuere Ansätze vor, die im Kern die Museumsbesucher zum eigenständigen Planen und Handeln anregen, aber auch deren soziale Kompetenzen fördern sollen.
INHALT DER GWU 5–6/2013
ABSTRACTS (S. 258)
EDITORIAL (S. 260)
BEITRÄGE
Detlev Mares/Sonja Petersen Pizza statt Sputnik. Zu den didaktischen Möglichkeiten einer Technikgeschichte des Alltags (S. 261)
Martina Heßler Die technisierte Lebenswelt. Perspektiven für die Technikgeschichte (S. 270)
Sonja Petersen Handwerk in der Industrialisierung. Handschriftliche Aufzeichnungen als Quellen einer Technikgeschichte (S. 284)
Karsten Uhl Die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ im Fabrikalltag. „Menschenführung“ zwischen Selbstverantwortung und Disziplinierung (S. 298)
Monika Röther Alltägliche Objekte als aussagekräftige Zeugen der Vergangenheit. Musikschrank und Stereoanlage erzählen von den 1960er Jahren (S. 316)
Claudia Gottfried/Martin Schmidt Neue Methoden der Museumspädagogik an Technik- und Industriemuseen? (S. 334)
DISKUSSION
Rainer Bendick Das niedersächsische Zentralabitur im Fach Geschichte. Wie ein kompetenzorientiertes Curriculum den Geschichtsunterricht verändert (S. 349)
Peter Heldt Das niedersächsische Zentralabitur im Fach Geschichte. Wie ein kompetenzorientiertes Curriculum den Geschichtsunterricht verändert. Eine erwiderung auf Rainer Bendick (S. 361)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub Archimedes, Leonardo und Zuse. Die ganze E-Welt der Technikgeschichte (S. 366)
LITERATURBERICHT
Sabine Dabringhaus China, Teil I (S. 369)
NACHRICHTEN (S. 381)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 384)
ABSTRACTS DER GWU 56/2013
Detlev Mares/Sonja PetersenPizza statt Sputnik. Zu den didaktischen Möglichkeiten einer Technikgeschichte des Alltags GWU 64, 2013, H. 5/6, S. 261 – 269
Der Beitrag plädiert für eine stärkere Berücksichtigung technikgeschichtlicher Fragestellungen im Geschichtsunterricht und schlägt vor, dazu das alltagsgeschichtliche Potential der Technikgeschichte zu nutzen. Nach einem einleitenden Abschnitt werden Beispiele für die Analyse der historischen Dimensionen alltäglicher Techniknutzung vorgestellt, bevor abschließend didaktische Möglichkeiten erörtert und die Beiträge des Schwerpunktheftes „Technikgeschichte des Alltags“ vorgestellt werden.
Martina HeßlerDie technisierte Lebenswelt. Perspektiven für die Technikgeschichte GWU 64, 2013, H. 5/6, S. 270 – 283
Technik ist unabdingbarer Bestandteil unserer Lebenswelt. In der Moderne sind unsere Handlungen und Wahrnehmungen, unser „In-der-Welt-Sein“ untrennbar mit Technik verwoben. Ausgehend von dieser scheinbar banalen Beobachtung wird die Bedeutung von Technik für Praktiken, Wahrnehmungen und für die Haltungen zur Welt reflektiert. Im Rückgriff auf den Begriff der Lebenswelt und im Anschluss an phänomenologische Theorien entwickelt der Beitrag eine technikhistorische Perspektive, um den Wandel der technisierten Lebenswelt zu analysieren. Zentrales Anliegen ist es dabei weniger, den Wandel der Technik selbst zu erklären als vielmehr den Wandel der menschlichen Existenz in einer technisierten Welt. Dies wird an konkreten historischen Beispielen veranschaulicht.
Sonja PetersenHandwerker in der Industrialisierung. Handschriftliche Aufzeichnungen als Quellen einer Technikgeschichte des Arbeitsalltags GWU 64, 2013, H. 5/6, S. 284 – 297
Technikgeschichte wird traditionell in der Schule mit dem Prozess der Industrialisierung verbunden. In diesem Zusammenhang bietet der Lehrplan vielfältige Anschlussmöglichkeiten für eine Technikgeschichte des Arbeitsalltags. Im Zentrum dieses Beitrags stehen die Erfahrungen der Arbeiter und Handwerker des Musikinstrumentenbaus, ihr Wissen und dessen Wandel während der Industrialisierung. Anhand von handschriftlichen Quellen wird danach gefragt, welche Hinweise auf einen industrialisierten Arbeitsprozess sich in Selbstzeugnissen von Arbeitern und Handwerkern finden lassen und ob ein Wandel ihres Wissens und ihrer Erfahrungen festzustellen ist.
Karsten UhlDie nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ im Fabrikalltag. „Menschenführung“ zwischen Selbstverantwortung und Disziplinierung GWU 64, 2013, H. 5/6, S. 298 – 315
Ausgehend von der Untersuchung der Personalpraktiken bei einer Kölner Motorenfabrik untersucht dieser Beitrag Formen der Machtausübung während des Nationalsozialismus. Humboldt-Deutz führte 1935 die „Selbstkontrolle“ und „Selbstkalkulation“ in den Fabrikalltag ein: Ausgewählten Arbeitern wurde zunächst die Verantwortung für die Kontrolle ihrer Arbeit und in einem zweiten Schritt die Festlegung ihres Akkordes übertragen. Die NS-Publizistik erklärte diese betrieblichen Einrichtungen zu einem Ausdruck der eigenen Volksgemeinschaftsideologie. Keinesfalls wurde dabei auf Disziplinarmaßnahmen verzichtet, vielmehr wurden verschiedene Formen der Machtausübung miteinander kombiniert.
Monika RötherAlltägliche Objekte als aussagekräftige Zeugen der Vergangenheit. Musikschrank und Stereoanlage erzählen von den 1960er Jahren GWU 64, 2013, H. 5/6, S. 316 – 332
Hochglanzpolierte Musikschränke und moderne Stereoanlagen waren Statussymbole der Westdeutschen während der „langen 60er Jahre“ (1957 – 1973). Heute visualisieren sie nicht nur den technischen Fortschritt, sondern sind aussagekräftige Zeugen einer Phase gesellschaftlicher Transformation: Aufbruch und Wandel erreichten auch die deutschen Wohnzimmer. Die Ausdifferenzierung des Angebotes an Unterhaltungselektronik verweist auf die einsetzende Pluralisierung von Konsummustern und die Individualisierung persönlicher Lebenswelten.
Claudia Gottfried/Martin SchmidtNeue Methoden der Museumspädagogik an Technik- und Industriemuseen? GWU 64, 2013, H. 5/6, S. 334 – 348
Seit Gründung der Industrie- und Technikmuseen hält die Debatte an, ob es sinnvoller sei, sich auf die Darstellung und Vermittlung von Technik oder die wirtschafts- und sozialhistorischen Kontexte zu konzentrieren. In der Museumspädagogik resultieren daraus zwei Pole: Die einen glauben mit Laboren der Forderung nachzukommen, Interesse an Technik zu wecken und sich damit an einer Sicherung des Humankapitals für den Industriestandort Deutschland zu beteiligen; die anderen versuchen einen Prozess zu initiieren, der nicht nur die historische Methodenkompetenz stärkt. Das Schwanken der Entwicklung zwischen diesen Polen wird historisch abgeleitet und drei neue Ansätze der Museumspädagogik werden vorgestellt.