Historikerinnen und Historiker entdecken seit geraumer Zeit das Meer – oder besser vielleicht: Sie entdecken es wieder. Längst ist von einer „ozeanischen Wende“ die Rede, längst von einer „neuen Thalassologie“, längst wird von „historischer Meereswissen- schaft“ gesprochen. Kaum ein Meer, das in den vergangenen Jahren ohne Monographie, ja, ohne Biographie geblieben wäre. Die Gründe für diesen – immer noch zunehmenden und keineswegs auf die Geschichtswissenschaft beschränkten – Trend sind vielfältig: So spielt ohne Frage das anhaltende Interesse an Globalgeschichte eine Rolle, das in vielen Fällen mit der (nicht nur postkolonialen) Absicht einhergeht, europäische Sichtweisen zu „provinzialisieren“. Das vorliegende Heft setzt vor diesem Hintergrund noch einen anderen Akzent: Es will in erster Linie auf die methodischen und das heißt auch: auf die inter- und transdisziplinären Chancen aufmerksam machen, die das räumliche und zeitliche „Dazwischen“ des Meeres als eines historischen (und historiographischen) Möglichkeitsraums eröffnet – scheint doch außer Frage zu stehen, dass maritime Räume als Räume ohne Ort und ohne Grenze dazu beitragen können, methodische Engführungen zu überwinden.Am Anfang entwickelt Hannes Ziegler am britischen Beispiel Perspektiven für eine Geschichte der Küste im Kontext des „maritime turn“. Fragen, die der Verfasser dabei stellt, gelten der „maritimen Identität“ küstennaher Gesellschaften, den kulturellen Repräsentationen des Küstenraums und den sozialen und konomischen Spezifika, die eine Untersuchung „zwischen Land und See“ vom 17. bis zum 19. Jahrhundert zu berücksichtigen hat. Lena Moser verlässt im Anschluss die Küstensäume, um sich mit dem zwischen 1766 und 1768 entstandenen Bordjournal des Navigationsoffiziers George Robertson zu beschäftigen. Einer Quelle, die Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt eines europäischen Akteurs an Bord eines Forschungsschiffes der britischen Marine im Pazifik erlaubt. Im Mittelpunkt steht dabei das ehrgeizige Selffashioning Robertsons, das zwischen viriler Körperlichkeit und wissenschaftlicher Neugierde oszilliert. Felix Lüttge zeigt am Beispiel der Aufzeichnungen und Schriften des Kapitäns (und Theologen) William Scoresby, wie die Walfänger des 19. Jahrhunderts mithilfe von Logbuch und Kartographie versuchten, ihrer Beute durchs Meer zu folgen. Die Frage nach den Spuren des Wals wird auf diese Weise zu einer Wissensgeschichte der Nordwestpassage. Sünne Juterczenka rekonstruiert mithilfe der Flaschenpost – der sogenannten Driftflaschen – die Erforschungsgeschichte der Meeresströmungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Hintergrund des Beitrags steht das Konzept der „geteilten Geschichte“, das dazu dient, die maritim vermittelte Verflechtung von europäischer und nicht-europäischer Welt lokal, regional und global sichtbar zu machen. Der Beitrag trägt auf diese Weise nicht nur dazu bei, das Meer als wissenschaftsgeschichtlichen Interaktionsraum zu konstituieren, sondern auch die Dichotomie von „Metageographie“ und mikrohistorisch inspirierter kulturgeschichtlicher Meeresforschung zu überwinden. Ruth Schilling schließlich geht zurück an Land und gibt einen Einblick in den Umstrukturierungsprozess, in dem sich das Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven seit 2014 befindet. Im Mittelpunkt stehen dabei Konzept und Praxis der neuen Dauerausstellung rund um ein Schiffswrack der Hansezeit – und ein Schulprojekt, das dem Handel (und dem Konsum) von Drogen in frühneuzeitlichen Hafenstädten gewidmet war. Der Beitrag ist zugleich ein Plädoyer für die enge Zusammenarbeit von Museum, Universität und Schule im Sinne eines gemeinsamen „Occupy the Sea“. Ein Plädoyer, das zugleich dazu beitragen soll, die gesellschaftliche Sensibilität für die Gefährdung des Meeres zu erhöhen.
ABSTRACTS (S. 610) EDITORIAL (S. 612)
BEITRÄGE
Hannes Ziegler Zwischen Land und See Überlegungen zur Geschichte der Küste am britischen Beispiel (S. 613)
Lena Moser Der neugierige Mr Robertson Selbstkonstruktion und -inszenierung während der zweiten Forschungsreise der Dolphin, 1766 – 68 (S. 629)
Felix Lüttge Indizienbeweise Spekulative Geographie auf den Spuren des Wals (S. 645)
Sünne Juterczenka „Break this bottle“ Flaschenpost, Strömungsforschung und das Meer als globaler Interaktionsraum der Neuzeit (S. 660)
Ruth Schilling Das materialisierte Meer Im Museum über unseren Umgang mit den Ozeanen lernen (S. 675)
BERICHTE UND KOMMENTARE
Christoph Cornelißen Historikerkommissionen Geschichtswissenschaftliche Forschung im Spannungsfeld von Politik, Öffentlichkeit und professionellen Grundsätzen (S. 686)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub Ein Meer von Internetquellen Ozeane und Weltmeere im Netz (S. 695)
LITERATURBERICHT
Heike Bungert/Jana Weiß Geschichte der USA Teil I (S. 698)
NACHRICHTEN (S. 713)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 716)
REGISTER DES JAHRGANGS 71, 2021 (S. 717)
ABSTRACTS
Hannes Ziegler Zwischen Land und See Überlegungen zur Geschichte der Küste am britischen Beispiel Die Erforschung maritimer Geschichte hat in den letzten Jahrzehnten an Popularität gewonnen. Jenseits eines Interesses an globalen Themen zeichnet sich auch ein Trend ab, die Geschichte der Küste und des Küstenraumes als selbstständiges Forschungsobjekt zu betrachten. Doch mit welchem Ziel? Welche Forschungs- fragen generiert solch eine Perspektive und wie verbindet sie sich mit eher traditionellen Themen und Ansätzen der Geschichtswissenschaft? Der Beitrag untersucht diese Fragen mit Blick auf jüngst erschienene Forschungsbeiträge. Am britischen Beispiel entwickelt der Beitrag zudem mögliche Frageansätze und For- schungsperspektiven.
Lena Moser Der neugierige Mr. Robertson Selbstkonstruktion und -inszenierung während der zweiten Forschungsreise der Dolphin, 1766 – 68 Das Bordjournal, dass der Navigationsoffizier George Robertson während der zweiten Weltumsegelung der Dolphin (1766 – 68) verfasste, eignet sich aufgrund seines Detailreichtums gut zur Rekon- struktion der Reise und des ersten Kulturkontakts zwischen Tahitianern und Europäern, verfügt aber noch über wei- tere, bisher in der Forschung wenig beachtete Dimensionen. Wie kaum ein anderes Dokument ermöglicht es Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt eines europäischen Navigators im Pazifik, der sich der potenziellen Wirkmacht seines Werks bewusst war und es gezielt in seiner Strategie der Selbstkonstruktion und -inszenierung im Hinblick auf das Errei- chen persönlicher und beruflicher Ziele einsetzte.
Felix Lüttge Indizienbeweise Spekulative Geographie auf den Spuren des Wals Wie folgten die Walfänger des 19. Jahrhunderts ihrer Beute durchs Meer, das keine Spuren zu hinterlassen erlaubt? Die Antwort, die dieser Text gibt, lautet: mithilfe von Medientechniken wie dem Logbuch und der thematischen Kartographie. Die Spur der Wale wurde nicht einfach gelesen, sondern war das Ergebnis einer Kom- bination von Indizien und musste erst spekulativ erzeugt werden. Am Beispiel der Walfangfahrten William Scoresbys und anhand seiner Schriften über die Arktis fragt dieser Text nach den Medien und Praktiken, mit deren Hilfe Walfänger und Ozeanographen die Spuren der Wale erzeugten oder sichtbar machten.
Sünne Juterczenka „Break this bottle“ Flaschenpost, Strömungsforschung und das Meer als globaler Interaktionsraum der Neuzeit Der Beitrag untersucht die Erforschung von Meeresströmungen mittels Flaschenpost (Driftflaschen) seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als „geteilte Geschichte“. Dabei werden lokale, regionale und globale Betrachtungsebenen verknüpft, um zu einer Überwindung des Gegensatzes zwischen maritimen „Metageografien“ und kleinteiliger kulturhistorischer Meeresfor- schung beizutragen. Das Meer erweist sich als globaler Interaktionsraum, der durch kulturspezifische Wahrnehmungen und Deutungen ebenso wie durch transkulturellen Austausch konstituiert wurde.
Ruth Schilling Das materialisierte Meer Im Museum über unseren Umgang mit den Ozeanen lernen Unser Umgang mit dem Meer hat unmittelbare Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft. Er ist durch historische Kontinuitäten und Umbrüche bedingt und geprägt. Es ist die Aufgabe maritimer histo- rischer Forschung und der Arbeit in einem geschichtswissenschaftlich ausgerichteten maritimen Museum, der Rolle der Menschen im Umgang mit dem Meer nachzuspüren. Dies kann besonders nachhaltig durch eine Einbeziehung von Nachwuchsforscher:innen aus Schulen und Universitäten in eine Arbeit mit historischen Quellen und insbesondere materieller Kultur geschehen.