In den 1920er Jahre kam es im Nahen Osten zu einem Boom satirischer Journale, wobei die Karikatur eine besondere Rolle spielte. Die global dicht vernetzten Metropolen Istanbul und Kairo avancierten in diesem Prozess zu produktiven – und kreativen – Zentren multigraphischer satirischer Kulturen. Ziel des Heftes ist es, diese Kulturen als interund transkulturelle Kommunikationsräume in den Blick zu nehmen, um auf diese Weise die politischen, sozialen und nicht zuletzt auch intellektuellen Diskurse rekonstruieren zu können, die in den Karikaturen aufgehoben sind. Die Frage nach „westlichen“ Einflüssen wird dabei ebenso gestellt wie jene nach einschlägigen emischen Entwicklungen, die in vielen Fällen bis weit ins osmanische und ägyptische 19. Jahrhundert zurückreichen. Der Blick auf die Karikatur soll vor diesem Hintergrund auch dazu beitragen, eurozentrische Perspektiven zu überwinden. Am Anfang skizziert Anna Kollatz die begrifflichen, konzeptionellen und methodisch-theoretischen Überlegungen, die dem Heft zugrunde liegen, wobei sie die Entwicklung der Karikatur im Nahen Osten als permanenten – keineswegs nur asymmetrischen – Übersetzungsprozess versteht. Kollatz lässt zudem erkennen, wie eng diese Entwicklung in die traditionellen performativen Diskurskulturen eingebunden war, vor allem in jene der Caféhäuser. Veruschka Wagner nimmt im Anschluss die Karikaturen des Griechisch-Türkischen Kriegs von 1921/22 in der osmanischen Satirezeitschrift „Āyīne“ („Spiegel“) in den Blick. Die Auseinandersetzung hatte im Rahmen des sogenannten Anatolischen Befreiungskriegs große Bedeutung für die Gründung der Republik Türkei – und führte zu umfassenden (und nachhaltigen) Bevölkerungsvertreibungen auf beiden Seiten. Die Karikaturen, deren Kontexte – und Bedeutungsebenen – freigelegt werden, erlauben es, die Entwicklung stereotyper Feindbilder vor dem Hintergrund der Entstehung des türkischen Nationalstaats nuanciert zu rekonstruieren. Was auffällt: In den Karikaturen sind mehr oder weniger durchgängig stilbildende „westliche“ satirische Transfers erkennbar. Anna Kollatz untersucht im folgenden Beitrag die Karikaturen des wichtigsten Zeichners der ägyptischen Satirezeitschrift „al-Fukāha“ („Witz“, „Humor“) ʿAlī Rifqī. Die Zeitschrift veröffentlichte im Kairo der späten 1920er Jahre eine Reihe sozialkritischer Karikaturen, die vor allem ein Thema hatten: die vielfältigen Veränderungen der ägyptischen Gesellschaft. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Auseinandersetzung mit den gängigen Diskursen um „Fortschritt“ und „Moderne“, wobei immer wieder auch der transkulturelle Vergleich gesucht wird. Die Verfasserin versteht ihre Analyse als Plädoyer für eine methodisch innovative und transdisziplinär offene Islamwissenschaft. Miriam Quiering schließt daran an und fragt nach dem Frauendiskurs in ägyptischen Karikaturen der 1920er Jahre. Auch sie stützt sich dabei auf die Satirezeitschrift „al-Fukāha“ – mit einem durchaus ambivalenten Befund: Auf der einen Seite sei der Frauenkörper als Projektionsfläche nationaler – „moderner“ – Identität genutzt worden; auf der anderen Seite seien vermännlichte, aggressive, frivole Frauentypen entworfen worden, die auf den Verlust traditioneller Geschlechterrollen und Familienstrukturen verwiesen und die damit auch die Furcht vor einer kulturellen Fremdbestimmung durch den „Westen“ zum Ausdruck brachten. Abschließend widmen sich Yasmin El-Menshawy und Alina Gläser dem „Vater der ägyptischen Karikatur“ Mohammed Abdel-Moneim Rakha, dessen Personifizierungen sozialer Gruppen in Ägypten bis heute weit verbreitet sind. Auffällig ist dabei vor allem die Dynamisierung weiblicher Figuren, in denen „Tradition“ und „Moderne“ eigen-sinnig zusammenfinden: nicht zuletzt dann, wenn Ägypten als Frau der Kolonialmacht Großbritannien als Mann gegenübergestellt wird. Peter Burschel
Abstracts(S.114)
Editorial(S. 116)
BEITRÄGE
Anna Kollatz Karikaturen im Nahen Osten Die 1920er Jahre (S. 117)
Veruschka Wagner Geschichte in Bildern Die satirische Darstellung des Griechisch-Türkischen Kriegs in der osmanischen Zeitschrift Âyîne (S. 129)
Anna Kollatz Maultier und Motorrad Fortschrittsdiskurse im Spiegel der Karikaturen ʿAlī Rifqīs (S. 148)
Miriam Quiering Die Freiheit der Frauen und die Angst der Männer Karikaturen zum Thema Gender und Emanzipation in der al-Fukāha (1926–28) (S. 165)
Yasmin El-Menshawy/Alina Gläser Stereotype in der ägyptischen Satirepresse Mohammed Abdel-Moneim Rakha und die Zeitschrift al-Balāġ al-Usbūʿī (S. 185)
Informationen Neue Medien
Alessandra Sorbello Staub (Kriegs)Bilder Historische Quellen und aktuelle Herausforderungen (S. 205)
Literaturbericht
Sebastian Bitsch/Jens Scheiner Islamische Geschichte (S. 208)
Nachrichten (S. 234)
Autorinnen und Autoren (S. 240)
ABSTRACTS
Anna Kollatz Karikaturen im Nahen Osten Die 1920er Jahre GWU 73, 2022, H. 3/4, S. 117 – 128 Die 1920er Jahre sind global, und damit auch im Nahen Osten, eine Zeit tiefgreifender Umbrüche, nicht nur in politischer, sondern auch in sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht. In dieser Zeit kommt es im Nahen Osten zu einem regelrechten Boom satirischer Journale, die sich insbesondere auch durch Karikaturen mit diesen Umbrüchen auseinandersetzen. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über den historischen Hintergrund, vor dem die folgenden Fallstudien zu lesen sind, und diskutiert die gemeinsame theoretische und methodologische Basis der folgenden Beiträge.
Veruschka Wagner Geschichte in Bildern Die satirische Darstellung des Griechisch-Türkischen Kriegs in der osmanischen Zeitschrift Āyīne GWU 73, 2022, H. 3/4, S. 129 – 147 Durch die Analyse einzelner Karikaturen aus der Satirezeitschrift Āyīne, die in den Jahren des Anatolischen Befreiungskrieges erschienen ist, ist es möglich, den Griechisch-Türkischen Krieg, der als Teil des Anatolischen Befreiungskrieges für die Gründung der modernen Republik Türkei von großer Bedeutung war, in sei nen einzelnen Etappen zu verfolgen. Des Weiteren ist die Entwicklung stereotyper Feindbilder im Zusammenhang mit der Entstehung des türkischen Nationalstaates zu erkennen. Da die von Zeitzeugen karikierten Bilder auf verschiedene damals aktuelle Zusammenhänge referieren und in deren Kontext entstanden sind, ist es aus heutiger Perspektive teilweise schwierig, den Witz in seinem ganzen Umfang auf den ersten Blick zu erfassen. Daher müssen diese Karikaturen in damalige historische, gesellschaftliche und politische Ereignisse eingebettet betrachtet werden.
Anna Kollatz Maultier und Motorrad Fortschrittsdiskurse im Spiegel der Karikaturen ʿAlī Rifqīs GWU 73, 2022, H. 3/4, S. 148 – 164 Dieser Beitrag wendet sich der Satirezeitschrift al-Fukāha („Witz“ oder „Humor“) mit ihrem Chefzeichner ʿAlī Rifqī zu. Diese veröffentlichte im Kairo der späten 1920er Jahre eine Anzahl von sozialkritischen Karikaturen, die sich mit der Veränderung der ägyptischen Gesellschaft und der Ausbildung neuer Gesellschaftsschichten beschäftigen. Dieser Beitrag analysiert einige dieser Darstellungen exemplarisch, zeigt gemeinsame Stilmittel und Themen auf und diskutiert diese satirischen Ausdrucksformen in Bezug auf ihre Einbindung in internationale und transkulturelle Prozesse und Theorien des ‚Fortschritts‘ bzw. der ‚Moderne‘.
Miriam Quiering Von Fortschrittsikonen und männerfressenden Spinnendamen Der Frauendiskurs in ägyptischen Karikaturen aus den 1920ern GWU 73, 2022, H. 3/4, S. 165 – 184 In den 1920er Jahren stellen die neue Sichtbarkeit von Frauen in der Öffentlichkeit sowie Reformen in diesem Bereich vieldiskutierte gesellschaftliche und politische Veränderungen dar, die auch in Karikaturen medial aufgearbeitet werden. Dabei eröffnen die satirischen Darstellungen von Frauen mehrere Analyseebenen, durch die ersichtlich wird, wie die Themen Fortschritt und Modernisierung, Nationalismus und Unabhängigkeit und auch der Umgang mit dem ‚Westen‘ mit der Debatte über die Rolle der Frau in Zusammenhang gebracht werden.
Yasmin El-Menshawy/Alina Gläser Stereotype in der ägyptischen Satirepresse Mohammed Abdel-Moneim Rakha und die Zeitschrift al-Balāġ al-Usbūʿī GWU 73, 2022, H. 3/4, S. 185 – 204 In der Satirepresse Ägyptens der Zwischenkriegszeit wurden der nationale Diskurs über die Unabhängigkeit und die visuelle Konstruktion der ägyptischen Identität vielfältig thematisiert. Einen wichtigen Beitrag leistete in diesem Kontext der Künstler Mohammed Abdel-Moneim Rakha, der „Vater der ägyptischen Karikatur“, der mit seinen gesellschaftlichen und politischen Stereotypen die politischen und sozialen Umstände der damaligen Zeit kritisierte. Exemplarisch werden hier seine berühmten Charaktere und Karikaturen aus der Zeitschrift al-Balāġ al-Usbūʿī („Die Wochenmeldung“) untersucht.