Seit langem hat sich das Konzept „Quellenarbeit“ im deutschen Geschichtsunterricht etabliert. Im Umgang mit Quellen – insbesondere Textquellen – sollen Schülerinnen und Schüler den Forschungsprozess von Historikerinnen und Historikern in Ansätzen nachvollziehen und zu eigenen Deutungen der Vergangenheit gelangen. Auf diese Weise sollen sie eingeführt werden in fachspezifische Verfahren der Erkenntnisgenerierung und Sinnkonstruktion. Freilich finden sie im Schulbuch Quellen immer nur in aufbereiteter und angepasster Form vor: Es handelt sich um eine didaktisch begründete Auswahl, die Texte sind gekürzt, für Unterrichtszwecke kommentiert und transkribiert – äußere Unterschiede zwischen verschiedenen Gattungen treten nicht in Erscheinung.
(Text)Quellen als historischen Originalen begegnen die Schülerinnen und Schüler im Unterricht also so gut wie nie. Möglich ist eine solche Begegnung an einem außerschulischen Lernort: dem Archiv. Hier können Schülerinnen und Schüler Quellen in originaler Gestalt, in ihrer historischen Fremdheit, Authentizität und Materialität, ggf. auch in einem spezifischen Überlieferungskontext kennenlernen. Schon seit Jahrzehnten halten zahlreiche Archive pädagogische Angebote vor, die derartige Erfahrungen ermöglichen und bei eigenen Projekten, insbesondere im Rahmen des „Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten“, Unterstützung bieten.
Das vorliegende Heft bietet einen Einblick in archivpädagogische Angebote – mit einem Schwerpunkt auf digitalen. In ihrem Einführungsbeitrag geben Jens Aspelmeier, Wolfhart Beck und Philipp Erdmann einen Abriss der Geschichte von Archiven und ihrer Nutzung als Lernort, umreißen dessen Vermittlungs- und Erkenntnispotenziale und machen Vorschläge für eine intensivere Kooperation von Schule und Archiv. Die Angebote der „Arolsen Archives“ stellen Achim Jah, Katharina Menschick, Sabine Moller und Margit Vogt vor. Dieses Archiv, ursprünglich entstanden zum Zwecke der Personensuche, enthält über 30 Millionen Dokumente zur nationalsozialistischen Verfolgung. In den letzten Jahren sind digitale Tools entwickelt worden, mit denen Schulen diese Bestände nutzen und sich sogar an ihrer Erschließung beteiligen können. Um digitale Nutzungsmöglichkeiten geht es auch in dem Beitrag von Axel Janowitz, der zunächst die Entstehung des Stasi-Unterlagen-Archivs im Kontext und in der Folge der friedlichen Revolution von 1989 skizziert und dann an konkreten Beispielen zeigt, welche eindrücklichen Lernmöglichkeiten die online zur Verfügung gestellten Materialien bieten. Pionierarbeit bei der Entwicklung digitaler Angebote hat das Staatsarchiv Marburg geleistet, dessen „Digitales Archiv Marburg“ (DigAM) schon seit 2000 online ist. Bernhard Rosenkötter stellt das DigAM und das „Histodrom“, ein digitales Schulmuseum, vor und erörtert dabei auch die Frage, ob nicht die Möglichkeit, Digitalisate von Archivalien online zu nutzen, den eigentlich erwünschten Archivbesuch verhindere. Das Gegenteil sei aber der Fall: Digitale Angebote würden zur Vorabinformation genutzt und regten zum Besuch vor Ort an.
Über seine archivpädagogische Arbeit berichtet ein Autorenteam aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg. Dabei geht es vor allem um die Frage, mit welchen methodischen Verfahren sich unterschiedliche Altersgruppen von Schülerinnen und Schüler ansprechen lassen und wie man thematisch an Lehrplanvorgaben anknüpfen kann. Der abschließende Beitrag von Günter Riederer ist einem außergewöhnlichen Objekt aus dem Stadtarchiv Stuttgart gewidmet: einem Film, der die Deportation jüdischer Bevölkerung Ende 1941 zeigt. Der Autor schildert den Entstehungskontext und stellt ein Unterrichtsmodul vor, in dem Schülerinnen und Schüler quellenkritisch mit dem Film arbeiten. Alles in allem zeigen die Texte, welch breites Spektrum an Themen, Quellengattungen und Methoden Archive als Lernorte bieten.
Michael Sauer
AbstractsS. 242
EditorialS. 244
Beiträge
Jens Aspelmeier/Wolfhart Beck/ Philipp ErdmannArchiv.macht.Demokratie. Demokratiebildung durch forschend-entdeckendes Lernen im Archiv S. 245
Archive sind in einer demokratischen Gesellschaft offene Wissensorte und damit zugleich Lernorte. Archivpädagogische Angebote machen ihr didaktisches Potenzial zugänglich. Durch die forschend-entdeckende Auseinandersetzung mit originalen Quellen partizipieren Schülerinnen und Schüler an der pluralistischen Geschichtskultur. Das Archiv ist damit der Schlüsselort für das Schlüsselfach Geschichte. Die digitalen Transformationen eröffnen hierbei neue Chancen für die Demokratiebildung, stellen aber auch neue Herausforderungen.
Akim Jah/Katharina Menschick/Sabine Moller/Margit VogtForschend-entdeckendes Lernen und digitale Tools. Zur Archivpädagogik der Arolsen Archives S. 260
Die Arolsen Archives haben in den letzten Jahren Millionen von Dokumenten zur nationalsozialistischen Verfolgung in einem Online-Archiv öffentlich zur Verfügung gestellt. Daraus ergibt sich eine Verantwortung, die Bildungsarbeit mit Primärquellen im digitalen Raum weiterzuentwickeln. Der Beitrag stellt drei Beispiele aus der digitalen archivpädagogischen Praxis des Archivs vor und zeigt, wie sich die neuen Rahmenbedingungen auswirken, was durch die Digitalität ermöglicht wird und welche spezifischen Herausforderungen und offenen Fragen damit verbunden sind.
Peter Exner/Monika Schaupp/Julia Schneider/Verena Schweizer/Christof Strauß/Felix TeuchertEchte Geschichte entdecken. Archivpädagogik und Demokratiebildung im Landesarchiv Baden-Württemberg S. 273
Der Beitrag gibt einen Überblick über die archivpädagogischen Angebote und didaktischen Ansätze in der Bildungsarbeit des Landesarchivs Baden-Württemberg. Hierbei werden, ausgehend von der langen Tradition von Bildungsarbeit im Landesarchiv, aktuelle Projekte und Module vorgestellt. Anhand der Beispiele wird das Potenzial des außerschulischen Lernorts Archiv und die Bedeutung von Demokratiebildung und Demokratieerziehung in der archivpädagogischen Arbeit des Landesarchivs verdeutlicht.
Axel JanowitzDemokratielernen durch Akteneinsicht? Die Stasi-Unterlagen und ihre Rolle im Transformations- und Vereinigungsprozess seit 1990 als Lerngegenstand S. 286
Dass Archive umkämpfte Orte sein können, zeigt die Friedliche Revolution in der DDR. Bürgerinnen und Bürger besetzten die Stasi-Dienststellen, sicherten die Unterlagen und erzwangen deren Öffnung. Seit 1992 ist eine Einsicht und damit die historische, politische und juristische Aufarbeitung in der Öffentlichkeit möglich. Die Akten dokumentieren, wie die Stasi Alltag und Gesellschaft durchdrang und Menschenrechte verletzte. Der Beitrag erörtert die Rolle dieser Quellen im Transformationsprozess seit 1989/90 als Grundlage für das historische Lernen im heutigen Stasi-Unterlagen-Archiv und für die Teilhabe an Debatten über die DDR-Geschichte.
Bernhard RosenkötterVom Nutzen und Nachteil der Digitalisate für die Archivpädagogik. Ein Praxisbericht über digitale archivpädagogische Angebote des Hessischen Staatsarchivs Marburg S. 300
Macht die Verfügbarkeit digitaler Abbildungen von Archivquellen den Gang ins Archiv überflüssig – oder kann die Nutzung von Archiven im schulischen Geschichtsunterricht durch digitale Angebote verstärkt werden? Anhand von zwei sehr unterschiedlich konzipierten Websites der Arbeitsstelle Archivpädagogik am Hessischen Staatsarchiv Marburg werden langjährige Erfahrungen mit Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung vorgestellt. Ein gezielter Einsatz digitaler Präsentationen und Bearbeitungsmöglichkeiten kann eine fruchtbare Unterstützung für die archivpädagogische Arbeit und für die Nutzung von Archivquellen im schulischen Geschichtsunterricht sein.
Günter RiedererMaskeraden der Gewalt. Historisches Lernen am Beispiel einer archivischen Filmquelle zur Deportation der jüdischen Bevölkerung in Stuttgart 1941 S. 313
Im Stadtarchiv Stuttgart sind Filmaufnahmen aus dem Jahr 1941 überliefert, die die Deportation der jüdischen Bevölkerung in Stuttgart zeigen. Der Beitrag stellt ein Unterrichtsmodul vor, das diese Aufnahmen in ihrem filmischen und historischen Kontext verortet. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, die historischen Filmbilder kritisch zu hinterfragen und als Propagandamaterial zu durchschauen. Die Einbeziehung von schriftlichen Dokumenten und Zeitzeugenberichten fördert zudem die Bereitschaft, die Perspektivität und den historisch-politischen Kontext in die Analyse von Filmdokumenten einzubeziehen.
Stichworte zur Geschichtsdidaktik
Martin SchlutowVergleich(en) im Geschichtsunterricht. Erkenntnisverfahren und Sprachhandlung historischen Lernens S. 329
Informationen Neue Medien
Gregor HorstkemperDocs Teach – ein digitales Archiv als Lernort S. 340
Literaturbericht
Ulrich LappenküperDeutsches Kaiserreich 1871–1918. Teil I S. 343
NachrichtenS. 258
Autorinnen und AutorenS. 360