Schon seit längerer Zeit hat sich in der deutschen Geschichtsdidaktik ein narrativisti- sches Paradigma etabliert. Es geht aus von der Annahme, dass Geschichte sich grund- sätzlich in Form einer Erzählung konstituiert, die einzelne historische Sachverhalte im Zeitverlauf sinnbildend miteinander verknüpft. Aus diesem theoretischen Ansatz wird für den Unterricht die Vorgabe einer „narrativen Kompetenz“ abgeleitet: Schülerinnen und Schüler sollen in der Lage sein, selbst Narrationen zu verfassen und umgekehrt vor- liegende Narrationen zu dekonstruieren. Damit nimmt die Geschichtsdidaktik eine elaborierte geschichtstheoretische Verortung vor. Allerdings ist „narrative Kompetenz“ noch kaum konkretisiert worden. Wo und wann – mündlich oder schriftlich, in welchem Format – sollen Schülerinnen und Schüler Geschichte erzählen? Welche sprachlichen Muster sind dafür erforderlich, wie lassen sich diese realisieren bzw. erlernen? Und was sind eigentlich Kriterien für „gutes Erzählen“? Wohl wegen dieser mangelnden Konkretisierung ist das vielbeschworene Konzept Narrativität in der Praxis des Geschichtsunterrichts weitgehend folgenlos geblieben. Auf eine Klärung der aktuellen Diskussionslage um das „Erzählen“ im Fach Geschichte zielt der Beitrag von Ulrich Baumgärtner. Er untersucht verschiedene Erzählbegriffe und Erzählpraktiken, überprüft sie im Hinblick auf ihre Relevanz für den Geschichtsunterricht und wirft dabei auch einen Blick auf zentrale empirische Befunde. Seine kritische Musterung mündet in die Anregung, Geschichte eher als Argumentations- oder Urteilsfach denn als Erzählfach zu verstehen. Freilich wäre dann wiederum genauer zu klären, was eigentlich ein fachspezifisches Argumentieren und Urteilen ausmacht; selbst für die Urteilsbildung, zu der es eine lange Tradition geschichtsdidaktischer Konzeptualisierungsversuche gibt, kann dies noch keineswegs als abschließend geklärt gelten, und die Anzahl einschlägiger Arbeiten zum Thema Argumentieren ist durchaus überschaubar. Genau hier setzt der Aufsatz von Marcel Mierwald an. Geschichtstheoretisch sei Argumentieren durchaus mit dem Konzept historischen Erzählens vereinbar, wenn man Be- schreiben, Analysieren oder eben Argumentieren als spezifische Modi von Erzählen auf- fasse. Die englischsprachige Forschung verfolgt das Konzept Argumentation seit langem intensiv, hier seien zahlreiche Anleihen im Hinblick auf die Modellierung von Argumentieren, auf empirische Forschung und auf methodische Ansätze möglich. Um die Analyse von Schülererzählungen geht es in der Studie von Manfred Seiden- fuß und Urban Sager. Schülerinnen und Schüler aus der Schweiz und Deutschland wur- den aufgefordert, von in ihren Augen zentralen Geschehnissen und Personen der jewei- ligen Landesgeschichte zu erzählen. Dabei ergibt sich in beiden Fällen eine starke Per- sonalisierung; in der Schweiz dominiert der Tell-Mythos, in Deutschland der Bezug auf den Nationalsozialismus. Methodisch innovativ ist hier vor allem die Untersuchung un- terschiedlicher Erzählanfänge. Um nationale Narrationen anderer Art geht es beim Beitrag von Alfons Kenkmann, Martin Liepach und Sophia Tölle. Asylbewerberinnen und Asylbewerber in Deutschland müssen obligatorisch einen Integrationskurs besuchen, in dem auch Fragen zur jüngeren deutschen Geschichte behandelt werden. Die Untersuchung befasst sich mit den Materialien, die dazu von den Verlagen angeboten werden. Sie konstatiert fachwissenschaftliche (inhaltliche Lücken, problematische Deutungen) sowie fachdidaktische Defizite (Faktenorientierung, mangelnde Berücksichtigung geschichtsdidaktischer Prinzipien). „Erzählen“ stellt sich in diesem Heft als eine weite Klammer dar, unter die sich sehr unterschiedliche Forschungen subsummieren lassen. Kaum verwunderlich, dass viele offene Fragen bleiben – theoretisch, empirisch und pragmatisch.
ABSTRACTS(S.2)
EDITORIAL(S. 4)
BEITRÄGE
Ulrich Baumgärtner Geschichte – ein Erzählfach? (S. 5) Manfred Seidenfuß/Urban Sager Zum Was und zum Wie des historischen Erzählens Schulabsolvent:innen in der Schweiz und in Deutschland erzählen Geschichten über ihr Land (S.20)
Alfons Kenkmann/Martin Liepach/ Sophia Tölle „Leben in Deutschland“ Historische Bildung in den Orientierungs kursen für Geflüchtete (S.41)
Jörgen Wolf/Martin Rothland/Nicola Brauch Fehlanzeige Fachspezifik? Zur Wirksamkeit der Lehrerbildung am Beispiel des Unterrichtsplanungswissens von angehenden Geschichtslehrer/innen (S. 61)
STICHWORTE ZUR GESCHICHTSDIDAKTIK
Marcel Mierwald Historisches Argumentieren im Geschichtsunterricht – eine zentrale Sprachhandlung? Bedeutung, Konzeptualisierung und Förderung (S.80)
LITERATURBERICHT
Raimund Schulz/Uwe Walter Altertum Teil III (S. 96)
NACHRICHTEN(S. 114)
AUTORINNEN UND AUTOREN(S. 116)
REGISTER DES JAHRGANGS 73, 2022(S. 117)
ABSTRACTS
Ulrich Baumgärtner Geschichte – ein Erzählfach? GWU 74, 2023, H. 1/2, S. 5 – 19 Ausgehend von der weiten Verbreitung des Begriffs „Erzählen“ in der geschichtsdidaktischen Diskussion werden verschiedene Kontexte untersucht: die Varianten der Be- grifflichkeit, die mündliche Geschichtser- zählung der Lehrkraft und ihre Wandlun- gen, die theoretische Auseinandersetzung mit der Besonderheit historischer Erkennt- nis, die Umrisse einer auch in Lehrplänen begegnenden narrativen Kompetenz sowie die zusehends von den Schülerinnen und Schülern geforderten und auch empirisch untersuchten Narrationen. Der Autor gibt dabei zu bedenken, ob Geschichte weniger als Erzählfach denn als Argumentations- und Urteilsfach zu begreifen sei.
Manfred Seidenfuß/Urban Sager Zum Was und zum Wie des historischen Erzählens Schulabsolvent*innen in der Schweiz und in Deutschland erzählen Geschichten über ihr Land GWU 74, 2023, H. 1/2, S. 20 – 40 Bei einer Stichprobe im Kanton Luzern (N = 144, Sek. II) und in Rheinland-Pfalz (N = 30, Realschule) wurde in Anlehnung an Forschungen im anglo-amerikanischen Raum gefragt, was Jugendliche aus der Schweizer bzw. deutschen Geschichte er- zählen und wie sie ihre Erzählungen ge- stalten. Bei der überwiegend quantitativen Auswertung der Erzählungen interessier- ten insbesondere die Personen, die Erzähl- richtung und die Erzählanfänge. Wenngleich die Ergebnisse wegen der begrenz- ten Stichprobe kritisch zu sehen sind, wird im Aufsatz gezeigt, dass diese Jugendli- chen männer- und politiklastig erzählen und sich in ihren Erzählungen auf (weni- ge) Personen konzentrieren, die in den Geschichtskulturen der Schweiz (Tell-My- thos) und Deutschlands (NS-Geschichte) eine exponierte Bedeutung haben. Wie zu erwarten war, unterscheiden sich beide Gruppen deutlich auf inhaltlicher Ebene der Erzählungen, weniger deutlich hingegen bei ihrer Erzählweise.
Alfons Kenkmann/Martin Liepach/Sophia Tölle „Leben in Deutschland“ Historische Bildung in den Orientierungskursen für Geflüchtete GWU 74, 2023, H. 1/2, S. 41 – 60 Der Aufsatz widmet sich den Herausforde- rungen, die sich der historischen Bildung im Rahmen der für Geflüchtete offerierten staatlichen Orientierungskurse stellen. Bei der Analyse der eingesetzten Lehrwer- ke werden die Folgen einer starken Reduk- tion von Komplexität sowohl in fachwis- senschaftlicher als auch geschichtsdidak- tischer Hinsicht deutlich. Sensibilisiert wird für die fehlerhafte Repräsentation von Quellen, die wenig kontroverse Dar- stellung von Geschichte und die vorschnel- le Umsetzung einer übermächtigen Gegen- wartsorientierung. Die in der Narration aufscheinenden überholten Forschungs- stände sowie der Verlust an inhaltlicher Differenzierung bei der Darstellung des Nationalsozialismus legen in Teilen eine Überarbeitung der Lehrwerke nahe.
Jörgen Wolf/Martin Rothland/Nicola Brauch Fehlanzeige Fachspezifik? Zur Wirksamkeit der Lehrerbildung am Beispiel des Unterrichtsplanungswissens von angehenden Geschichtslehrer/innen GWU 74, 2023, H. 1/2, S. 61 – 79 Bisherige Studien konnten keine oder nur eine geringe Entwicklung des geschichts- didaktischen Wissens von angehenden Geschichtslehrern während der Lehrerausbildung nachweisen. Wir berichten über die theoretischen Hintergründe und Ergebnisse einer neuen Untersuchung zur Entwicklung des Unterrichtsplanungswissens. In dieser Studie fanden wir signifikante Unterschiede im Wissensstand zwischen den verschiedenen Kohorten (n = 282), welche auf einen Wissenszuwachs verweisen. Es lassen sich aber auch eini- ge Defizite feststellen. Insgesamt scheint weniger die Fachspezifik des Wissens als vielmehr die Tiefe und Vernetzung der relevanten Wissensarten verbesserungswürdig zu sein.
Marcel Mierwald Historisches Argumentieren im Geschichtsunterricht – ein zentrale Sprachhandlung? Bedeutung, Konzeptualisierung und Förderung GWU 74, 2023, H. 1/2, S. 80 – 95 Zwar werden argumentative Sprachhandlungen häufig im Fach Geschichte verlangt, jedoch fallen diese den Lernenden in der Regel schwer. Dies könnte damit zu tun ha- ben, dass sie selten explizit im Unterricht thematisiert und trainiert werden. Hinzu kommt, dass erst durch den jüngeren Dis- kurs zum sprachsensiblen Geschichtsun- terricht ausgelöst fachdidaktisch die Frage gestellt wird, wie fachspezifische Sprach- handlungen näher zu bestimmen sind. Vor diesem Hintergrund fragt dieser Beitrag da- nach, inwiefern es sich beim historischen Argumentieren um eine zentrale Sprach- handlung im Geschichtsunterricht han- delt und wie diese theoriebasiert konzep- tualisiert sowie praktisch gefördert werden kann. Abschließend wird auf weiteren Forschungsbedarf zum Thema eingegangen.