Art Spiegelmans „Maus“ hat wohl am meisten dazu beigetragen, den Comic – oder anspruchsvoller: die graphic novel – als anerkanntes Medium der Geschichtsdarstellung zu etablieren. Mittlerweile existiert ein breites Angebot zu unterschiedlichsten Themen und mit sehr verschiedenartigen Erzähl- und Gestaltungsweisen. Einschlägige Forschungen haben sich nicht nur im Sinne einer Medienanalyse mit den Comics selbst, sondern auch mit den Möglichkeiten ihrer Verwendung in der Geschichtsvermittlung befasst – im Geschichtsunterricht, aber auch in anderen Kontexten. Einem speziellen Bereich der Geschichtsvermittlung und den Einsatzmöglichkeiten von Geschichtscomics, die sich dort bieten, ist das vorliegende Heft gewidmet: der Arbeit mit Comics in Gedenkstätten. Schon seit längerem kommen Comics in der Gedenkstättenarbeit, bezogen auf die Geschichte des Nationalsozialismus, aber auch der DDR, zum Einsatz. Bisweilen sind sogar Comics gezielt für derartige Bildungszwecke entwickelt worden. Mit ihrer Nutzung verbindet sich die Hoffnung, insbesondere Schülerinnen und Schüler in eingängiger und anschaulicher Weise über die Geschichte von Opfern und Orten informieren zu können. Freilich ist es nicht damit getan, dass sich Schülerinnen und Schüler bunte (oder auch schwarz-weiße) Bilder ansehen; vielmehr sollten sie sich genauer mit den Erzähl- und Darstellungsweisen, den Potenzialen und Limitationen von Geschichtscomics auseinandersetzen und damit eine spezifische Gattungskompetenz erwerben. Dabei können neben analytischen durchaus auch produktive Zugänge genutzt werden. Die Beiträge des Heftes berichten von den einschlägigen Aktivitäten in verschiedenen deutschen NS-Gedenkstätten, aus der polnischen Gedenkstättenarbeit, schließlich aus einer DDR-Gedenkstätte. Sie sind im Kontext eines Workshops entstanden, der 2021 an der Universität Köln stattgefunden hat. Die Einführung von Dennis Bock und Christine Gundermann informiert über diesen Entstehungskontext und skizziert die dort verhandelten Forschungsfragen und Vermittlungsmethoden. Sylvia Kesper-Biermann und Christel Trouvé rücken in ihrem Beitrag aus dem „Denkort Bunker Valentin“ die Konstruktionsweise des gleichnamigen Comics „Valentin“ von Jens Genehr und dessen Verwendung von Quellen in den Mittelpunkt. Einen Überblick über einschlägige polnische Comicproduktionen gibt Kalina Kupczyńska, bevor sie dann den Comic „Chleb wolnościowy“ von Paweł Piechnik genauer behandelt; insgesamt, so konstatiert sie, herrsche in den polnischen Comics noch immer ein national orientiertes polnisch-katholisches Geschichts- und Opferbild vor und komme die jüdische Perspektive zu kurz. Wiebke Siemsglüß und Markus Streb setzen einen Akzent auf dem Einsatz von Comics in einem fest installierten Workshop in der KZ-Gedenkstätte Dachau und beschreiben dessen Konzeption. Am Beispiel der „Lübecker Märtyrer“ befassen sich Dennis Bock, Jeff Hemmer und Karen Meyer-Rebentisch besonders intensiv mit den Problemen der bildlichen Authentizität von Geschichtscomics bzw. den Authentifizierungsstrategien von Comicautoren. Der Schwerpunkt des abschließenden Beitrags von Christine Gundermann und Patrick Hoffmann liegt auf dem Bericht über einen Comic-Workshop zur DDR-Geschichte im Grenzlandmuseum Eichsfeld, bei dem es auch um den Entwurf eigener Kurz-Comics ging. Insgesamt entsteht so – mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der einzelnen Beiträge – ein facettenreiches Bild von der Arbeit mit Geschichtscomics. Auch wenn die Rahmenbedingungen andere und die zeitlichen Ressourcen begrenzt sind – die vorgestellten Überlegungen und Hinweise lassen sich auch als Anregungen für den Geschichtsunterricht lesen.
Abstracts (S.234) Editorial (S.236) Beiträge
Dennis Bock/Christine Gundermann Über das Arbeiten mit Comics in Gedenkstätten (S. 237)
Sylvia Kesper-Biermann/Christel Trouvé „Es beginnt mit der Quelle“ Multiperspektivität im Medium Comic und in der Gedenkstättenarbeit am Beispiel des Bunkers „Valentin“ in Bremen-Farge (S. 249)
Kalina Kupczyńska Comics in polnischen Gedenkstätten „Chleb wolnościowy“ von Paweł Piechnik (2019) im Kontext der polnischen Holocaust-Comics (S. 261)
Wiebke Siemsglüß/Markus Streb Der Workshop „Comic Memories – das Konzentrationslager Dachau im Comic“ an der KZ-Gedenkstätte Dachau Ein Beispiel für die Arbeit mit gezeichneter Erinnerung in KZ-Gedenkstätten (S. 275)
Dennis Bock/Jeff Hemmer/ Karen Meyer-Rebentisch Werkstattbericht Geschichtscomic am Beispiel der Geschichte der „Lübecker Märtyrer“ (S. 284)
Christine Gundermann/Patrick Hoffmann Comics zur DDR-Geschichte in der Gedenkstättenarbeit (S. 299)
BERICHTE UND KOMMENTARE
Christian Götter ‚Künstliche Intelligenz‘ schreibt künstliche Geschichte Ein Experiment zu OpenAIs - ChatGPT im Geschichtsstudium (S. 312)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper Comics als Quelle Englisch- und französischsprachige Online-Materialien (S. 325)
LITERATURBERICHT
Christoph Marx Afrika (S. 327)
NACHRICHTEN(S. 349)
AUTORINNEN UND AUTOREN(S. 352)
ABSTRACTS
Dennis Bock/Christine Gundermann Über das Arbeiten mit Comics in Gedenkstätten GWU 74, 2023, H. 5/6, S. 237 –248 Seit etwa 20 Jahren werden in vielen Gedenkstätten, die an die Gewaltgeschichte Europas im 20. Jahrhundert erinnern, nicht nur Comics zum Verkauf angeboten, sondern diese auch aktiv in die Bildungsarbeit der entsprechenden Stätten einbezogen. Die Genese und Praxis dieser unterschiedlichen Verwendungen zeigen, dass es sich um ein internationales Phänomen handelt, das sich weiter in Europa etabliert. Der vorliegende Text fasst die Ergebnisse eines Workshops von interna- tionalen Comicforschenden, Gedenkstättenpädagog:innen und Comickünstler:innen zusammen. Diese betreffen sowohl die Herausforderungen beim Einsatz von Comics in Gedenkstätten als auch bei entsprechenden Auftragsarbeiten. Schließlich werden erste Leitlinien für die Arbeit mit Comics in Gedenkstätten formuliert.
Sylvia Kesper-Biermann/Christel Trouvé „Es beginnt mit der Quelle“ Multiperspektivität im Medium Comic und in der Gedenkstättenarbeit am Beispiel des Bunkers „Valentin“ in Bremen-Farge GWU 74, 2023, H. 5/6, S. 249 –260 Der Beitrag untersucht, ob bzw. wie eine multiperspektivische Betrachtung des Nationalsozialismus im Medium Comic sowie in der Gedenkstättenarbeit gelingen kann. Im Mittelpunkt steht der Bau einer verbunkerten U-Boot-Werft bei Bremen zwischen 1943 und 1945. Die Gedenkstätte „Denkort Bunker Valentin“ sowie die 2019 erschienene Graphic Novel „Valentin“ setzen sich mit dieser Geschichte auseinander. Im Beitrag wird die Graphic Novel erstens in die Comicveröffentlichungen zum Nationalsozialismus eingeordnet. Der zweite Teil beleuchtet ihre Entstehungsgeschichte und ihr Verhältnis zur Gedenkstätte. Drittens wird die Umsetzung des historischen Themas im Comic untersucht. Schließlich folgen viertens Ausführungen dazu, wie „Valentin“ in der Ge- denkstättenarbeit eingesetzt werden kann.
Kalina Kupczyńska Comics in polnischen Gedenkstätten „Chleb wolnościowy“ von Paweł Piechnik (2019) im Kontext der polnischen Holocaust-Comics GWU 74, 2023, H. 5/6, S. 261 –274 „Chleb wolnościowy“ [Das Brot der Freiheit] von Paweł Piechnik (2019) ist im Zusammenhang mit der Bildungsabteilung der Gedenkstätte Majdanek entstanden. Er basiert auf Zeugnissen bzw. Memoiren von überlebenden KZ-Insass:innen und hat den Anspruch, als historisches Dokument gelesen und verstanden zu werden. In meinem Beitrag untersuche ich folgende Aspekte kritisch: erstens den Umgang des Autors mit dem Quellenmaterial und zweitens die Nutzung des Mediums Comic und dessen narrative Möglichkeiten für die Beleuchtung der Geschichte des KZ Majdanek. Der Comic wird dabei im Korpus der bestehenden Holocaust-Comics aus Polen verortet.
Wiebke Siemsglüß/Markus Streb Der Workshop „Comic Memories. Das Konzentrationslager Dachau im Comic“ an der KZ-Gedenkstätte Dachau Ein Beispiel für die Arbeit mit gezeichneter Erinnerung in KZ-Gedenkstätten GWU 74, 2023, H. 5/6, S. 275 –283 In diesem Beitrag werden Potentiale und Herausforderungen des Einsatzes von Comics im Kontext von NS-Gedenkstätten ausgelotet. Dies geschieht ausgehend von der Vorstellung des Workshops „Comic Memories. Das Konzentrationslager Dachau im Comic“, der zum festen pädagogischen Angebot der KZ-Gedenkstätte Dachau gehört. Aufeinander aufbauende didaktische Module thematisieren – unter Einbezug von ausgewählten Graphic Novels – nicht nur den historischen Ort und die Lebensbedingungen im ehemaligen KZ Dachau, sondern werfen auch erinnerungskulturelle Fragestellungen auf. Die im Workshop verwendeten Comics, die alle aus den letzten zehn Jahren stammen, werden im Beitrag außerdem in einen größeren comicgeschichtlichen Kontext eingeordnet.
Dennis Bock/Jeff Hemmer/ Karen Meyer-Rebentisch Werkstattbericht Geschichtscomic am Beispiel der Geschichte der „Lübecker Märtyrer“ GWU 74, 2023, H. 5/6, S. 284 –298 Der vorliegende Werkstattbericht gibt Einblick in den Entstehungsprozess einer Graphic Novel zur Geschichte der sogenannten „Lübecker Märtyrer“. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage nach der historischen Authentizität in einer künstlerischen Erzählung, bei welcher gründliche Recherche und der Rückgriff auf fiktionale Konstrukte kombiniert werden müssen. Wie kann der Spagat aus funktionierender Story, Wissensvermittlung und einem spannenden Zugang zur Geschichte ermöglicht werden, um einen historisch fundierten Comic zu schaffen, der einem breiten Publikum einen belletristischen Unterhaltungswert bietet und zugleich wissenschaftlichen Kriterien für den Einsatz als Bildungsmaterial in schulischen und außerschulischen Kontexten genügt?
Christine Gundermann/Patrick Hoffmann Comics zur DDR-Geschichte in der Gedenkstättenarbeit GWU 74, 2023, H. 5/6, S. 299 –311 In den letzten 20 Jahren ist eine Vielzahl an Comics entstanden, die DDR-Geschichte thematisieren. Viele von ihnen formulieren einen biografischen und historiografischen Anspruch und werden in Gedenkstätten für die Vermittlung genutzt. Der Beitrag stellt diese Comiclandschaft zunächst vor und skizziert zentrale stilistische Mittel und inhaltliche Schwerpunkte, mit denen die Comicautor:innen arbeiten. In einem zweiten Schritt wird der vielfältige pädagogische und kuratorische/museale Einsatz von Comics in Gedenkstätten und historischen Museen zur DDR-Geschichte skizziert und am Beispiel des Grenzlandmuseum Eichsfeld vertieft. Dabei werden verschiedene Angebote dieses Lernortes an der ehemaligen innerdeutschen Grenze beleuchtet, insbesondere ein mehrtägiges Schülerprojekt mit Comic-Workshops. Der Beitrag schließt mit einer kritischen Reflexion auf Herausforderungen und Potenziale, die sich aus der Arbeit mit Comics im gedenkstättenpädagogischen Rahmen ergeben.
Christian Götter ‚Künstliche Intelligenz‘ schreibt künstliche Geschichte Ein Experiment zu OpenAIs - ChatGPT im Geschichtsstudium GWU 74, 2023, H. 5/6, S. 312 –324 In diesem experimentellen Beitrag werden die Möglichkeiten und Herausforderungen des OpenAI-Chatbot-Prototypen ChatGPT für die Geschichtswissenschaften diskutiert – nicht zuletzt im Blick darauf, wie das System im Geschichtsstudium verwendet werden könnte. Zu diesem Zweck wird ChatGPT genutzt, um eine Inhaltsangabe zu einem Buch zu erstellen, einen thesengestützten Essay zu formulieren und eine geschichtswissenschaftliche Hausarbeit zu schreiben. Dabei treten sowohl zentrale Probleme des Systems – insbesondere seine mangelnde Differenzierung zwischen Fakten und Fiktionen – als auch seine Stärken – namentlich der Umstand, dass die Fiktionen des Systems auf die tatsächlichen Quellen neugierig machen – hervor.