Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60 (2009), 12

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60 (2009), 12
Weiterer Titel 
Konstruktivismus

Erschienen
Erscheint 
monatlich

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Editorial von Winfried Schulze

Es gehört zu den Besonderheiten der Arbeit des Historikers, dass immer wieder die erkenntnistheoretischen Grundlagen seines Tuns infrage gestellt werden oder zumindest auf ihre Schlüssigkeit überprüft werden. Seit Leopold von Rankes berühmtem „nur zeigen, wie es eigentlich gewesen ist“ hat sich eine nicht enden wollende Diskussion um die Frage ergeben, ob es sich bei dem Gegenstand, den der Historiker traktiert, um etwas Wirkliches handelt, dessen Wahrheit schließlich auch mit Hilfe immer mehr verfeinerter kritischer Methoden erkannt werden kann, oder um ein Konstrukt, das alleine im Kopf des Historikers entsteht und bestenfalls auf seine Triftigkeit hin überprüft werden kann. Könnte man Ranke noch einen naiven Realismus zuschreiben, so ginge dies spätestens seit der Einsicht Johann Gustav Droysens nicht mehr, der in seiner berühmten Historik festhielt, dass „die Geschichte nicht eigentlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht und so gewusst da ist“. Damit warnte er eindeutig vor allen Versuchen einer Naturalisierung der Geschichte. Man hätte nun vermuten können, dass nach dieser grundlegenden Erkenntnis und ihrer breiten Anerkennung diese Diskussion zu einem Ende gekommen wäre, aber das Gegenteil war bekanntlich der Fall. Vor allem in den letzten Jahrzehnten sind die Debatten über den Realitätscharakter „der Geschichte“ wieder neu entbrannt, und sie haben unter dem Zwang neuer gesellschaftlicher Entwicklungen neue Relevanz erhalten. Hierin liegt schließlich der Grund für die Bedeutung des Begriffes „Konstruktivismus“ auch für die Geschichtswissenschaft, der diesem Heft seine Richtung gegeben hat.

In vier aufeinander abgestimmten Beiträgen versuchen unsere Autoren, die neuere Diskussion vorzustellen und ihre jeweiligen Positionen zu schärfen: Hans-Jürgen Goertz benutzt dazu den französischen Philosophen und Lyriker Paul Valéry (1871–1945) als Ausgangspunkt seines Plädoyers für ein konstruktivistisches Geschichtsverständnis, das sich dezidiert mit entsprechenden Äußerungen von Jörn Rüsen, Chris Lorenz und Lucian Hölscher auseinandersetzt. Die Beiträge von Bärbel Völkel und Jörg van Norden gehen von einer ähnlichen Ausgangsposition aus und versuchen, die vermuteten spezifischen Erkenntnisvorteile eines konstruktivistischen Ansatzes für den Geschichtsunterricht zu nutzen. Hier wird die Hoffnung formuliert, mit Hilfe eines solchen Ansatzes neue Optionen für offenere Sinngebungsprozesse im Geschichtsunterricht zu entwickeln und so dem kognitiven Dilemma dieses Fachs zu entkommen. Es entspricht der Logik eines solchen Heftes, das auch kritische Überlegungen zur konstruktivistischen Position zu Wort kommen müssen. Diesen Part hat Joachim Rohlfes übernommen, der den plausiblen Vorschlag unterbreitet, zwischen radikalen und moderaten Formen des Konstruktivismus zu unterscheiden.

Tatsächlich scheint letztlich vieles für die seit Max Weber bewährte Praxis zu sprechen, einerseits zwar alle Formen eines naiven Realismus im historischen Arbeiten erkenntnistheoretisch in Frage zu stellen, andererseits aber durchaus in der praktischen Arbeit davon auszugehen, dass es intersubjektiv gültige Kriterien für wissenschaftliche Aussagen über Geschichte geben kann. Vermutlich wird uns nichts anderes übrig bleiben, als mit dieser Spaltung zu leben und so den gesellschaftlichen Herausforderungen an die Geschichtswissenschaft gerecht zu werden.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt der Ausgabe 12/09

ABSTRACTS (S. 690)

EDITORIAL (S. 691)

BEITRÄGE

Hans-Jürgen Goertz
Was können wir von der Vergangenheit wissen? Paul Valéry und die Konstruktivität der Geschichte heute (S. 692)

Joachim Rohlfes
Konstruktivismus – Stärken und Schwächen einer Erkenntnis- und Lerntheorie (S. 707)

Bärbel Völkel
„Was war, ist doch wahr, oder!?“ Geschichte(n) im Spannungsfeld zwischen Positivismus und Konstruktivismus (S. 720)

Jörg van Norden
Lob eines narrativen Konstruktivismus (S. 734)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub
Rund um die ehemalige deutsch-deutsche Grenze Quellen und Online-Angebote zur Berliner Mauer (S. 742)

LITERATURBERICHT

Wolfgang Schmale
Europäische Geschichte, Teil IV (S. 744)

NACHRICHTEN (S. 759)

REGISTER DES JAHRGANGS 60, 2009 (S. 765)

Abstracts der Ausgabe 12/09

Hans-Jürgen Goertz
Was können wir von der Vergangenheit wissen?
Paul Valéry und die Konstruktivität der Geschichte heute
GWU 60, 2009, H. 12, S. 692-706

Im Zuge des postmodernen Denkens hat sich gezeigt, wie veraltet der epistemologische Zugang der Geschichtswissenschaft zur Vergangenheit inzwischen ist. Die Einwände, die an dieser Beobachtung erhoben wurden, überraschen umso mehr, als Philosophen und Schriftsteller schon im letzten Jahrhundert eine heftige Kritik an den illusionären Ergebnissen der aus dem Historismus erwachsenen Geschichtsschreibung äußerten. In diesem Aufsatz wird das an Paul Valéry gezeigt. Die Konsequenz, die sich aus dieser Kritik ergibt, ist ein konstruktivistisches Geschichtsverständnis. An den Argumenten, die Jörn Rüsen, Chris Lorenz und Lucian Hölscher gegen den Konstruktivismus anführten, werden Grundzüge konstruktivistischer Geschichtswissenschaft noch einmal erläutert.

Joachim Rohlfes
Konstruktivismus – Stärken und Schwächen einer Erkenntnis- und Lerntheorie
GWU 60, 2009, H. 12, S. 707-719

Der unter dem Einfl uss postmoderner Sichtweisen in jüngster Zeit zu einem weithin anerkannten Forschungsparadigma avancierte „Konstruktivismus“ stützt sich auf das evidente, im Laufe der Wissenschaftsgeschichte vielfach vertretene Axiom, der menschliche Geist werde der Realität unserer Welt nur habhaft, indem er sie „konstruiert“, d. h., die empirischen Daten unter Vorstellungen, Begriffe, Kategorien subsumiert, die er selbst kreiert hat. Zu unterscheiden sind dabei eine radikale und eine moderate Form des Konstruktivismus. Während die radikale Version letztlich die Möglichkeit wirklichkeitsadäquater wissenschaftlicher Aussagen leugnet, trägt die moderate Alternative der Tatsache Rechnung, dass es intersubjektiv gültige Kriterien gibt, die über die Plausibilität einer wissenschaftlichen Feststellung entscheiden.

Bärbel Völkel
„Was war, ist doch wahr, oder!?“
Geschichte(n) im Spannungsfeld zwischen Positivismus und Konstruktivismus
GWU 60, 2009, H. 12, S. 720-733

Ereignisse der Vergangenheit, von Historikerinnen und Historikern in Darstellungen umgesetzt, suggerieren durch ihre intersubjektiv erzeugten Wahrheitsansprüche die Vorstellung einer wahren Geschichte. Diese Gewissheiten werden durch die Wissenstheorie des Konstruktivismus grundsätzlich in Frage gestellt. Durch das Einführen von Kontingenz in die Geschichte entsteht die Chance, historische Sinnbildungen zu ermöglichen, die an die Vorstellungen von einer besseren Welt, die Menschen der Vergangenheit hatten, anschlussfähig sind.

Jörg van Norden
Lob eines narrativen Konstruktivismus
GWU 60, 2009, H. 12, S. 734-741

Der „narrative Konstruktivismus“ greift die engagierte Auseinandersetzung um konstruktivistische Ansätze auf, zeichnet die Hauptlinien der Kritik nach und versucht sie zu widerlegen, indem wissenssoziologische und narrationstheoretische Konzepte einbezogen werden. Wird der Konstruktivismus an die Erzähltypologie Jörn Rüsens rückgebunden, gewinnt er an geschichtsdidaktischem Profil und unterrichtspraktischer Relevanz. Im Unterschied zur „alten“ Geschichtserzählung der 50er Jahre charakterisiert sich ihre moderne Form durch Triftigkeit und Schülerorientierung, Eigensinn und Diskurs.

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