Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), 9–10

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), 9–10
Weiterer Titel 
Sicherheitsdidaktiken im 20. Jahrhundert

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monatlich

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Michael Sauer

Die Suche nach Sicherheit konstituiert seit jeher einen herausragenden Orientierungspunkt politischen Handelns. Darüber hinaus sorgte die wachsende Ausdifferenzierung der Lebenswelten dafür, dass auch im Alltag sicherheitsbezogene Praktiken immer bedeutsamer wurden. Vor diesem Hintergrund sind inzwischen für viele Bereiche spezifische Sicherheitsdidaktiken entwickelt worden, die den Gegenstand des vorliegenden Themenheftes abgeben. Da es sich hierbei um ein noch junges Forschungsfeld handelt, bettet der Leipziger Historiker Kai Nowak in seinem einleitenden Beitrag das Konzept zunächst historisch ein und profiliert es darüber weiter. So zeigt er zum einen auf, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts unzählige Programme und Strategien entwickelt worden sind, um Menschen für potenzielle Gefährdungen in Gegenwart und Zukunft zu wappnen. Zum anderen skizziert er das Aufkommen von Märkten, die auf der Basis neuer Bildungs- und Lerntheorien sowie speziell hierfür entwickelter Lehrmaterialien das Einüben „risikoaverser Verhaltensweisen“ zu ihrer wichtigsten Aufgabe deklarierten. Zu den Orten der Vermittlung gehören neben Schulen oder Weiterbildungs-Institutionen nicht zuletzt die Medien.

Die nachfolgenden Beiträge spannen einen thematisch und methodisch breiten Bogen auf. So fragt Henning Tümmers nach Sicherheitsdidaktiken im Umgang mit neuen Seuchen. Bis in das 21. Jahrhundert erkennt er ein verbindendes Element darin, dass einerseits „Furchtbotschaften“ die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Bedrohungen lenkten, während andererseits konkrete Sicherheitspraktiken eine individuelle Prävention ermöglichen sollten. Der Appell an die Vernunft und an das Verantwortungsgefühl des Individuums stellt aus seiner Sicht eine „sicherheitsdidaktische Konstante“ im Umgang mit Epidemien dar. Dass dem selbstverantwortlichen Handeln in Sicherheitsdidaktiken insgesamt eine wachsende Bedeutung eingeräumt wurde, zeigt sodann Nina Kleinöder in ihrem Beitrag zu den „Medien des betrieblichen Unfallschutzes“ auf. Den Übergängen von der Unfallverhütungspropaganda der 1920er und dem betrieblichen Arbeitsschutz der 1950er und 1960er Jahre bis hin zur betrieblichen Sicherheitsprogrammatik im nachfolgenden Jahrzehnt lag im Kern – so lautet ihre Deutung – ein sich wandelndes und offeneres Menschenbild zugrunde. Einen ähnlichen Übergang von „forcierter Fremdiszplinierung“ hin zu einer stärkeren Selbstkontrolle thematisiert Kai Nowak in seinem Aufsatz über schulische Verkehrserziehung in (West-)Deutschland zwischen 1900 und 1980. Sowohl in politischer Hinsicht als auch im Blick auf die Bildungsinhalte und -methoden kam es in der Verkehrserziehung, so Nowak, zu einem Durchbruch liberaldemokratischer Paradigmen.

Im Anschluss daran legt Phillip Wagner, der sich mit den Debatten zur „bedrohten Demokratie“ in der politischen Bildung der 1970er und 80er Jahre beschäftigt, einen Beitrag zur westdeutschen Demokratiegeschichte vor. Im Kern hebt er darin auf eine dichotomische Gegenüberstellung von zwei politischen Lagern ab. Während die Verfechter liberalkonservativer Positionen über die Setzung „ethischer Grenzen“ Angriffe auf die Demokratie abzuwehren versucht hätten, sei es den Anhängern linksliberaler Ansichten eher um die Einübung demokratisch-moralischer Denkmuster gegangen. Abschließend rückt Franziska Rehlinghaus den Weiterbildungsboom seit den 1970er Jahren in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Im Zeichen des Mottos vom „lebenslangen Lernen“ habe diesem Markt einerseits die Aura eines umfassenden Sicherheitsversprechens angehaftet. Andererseits aber seien die Teilnehmer der entsprechenden Angebote immer nachdrücklicher an ihre Selbstverantwortung erinnert worden.

In der Gesamtschau zeigen die vorliegenden Beiträge die Konturen eines vielversprechenden Forschungsfeldes auf, dessen Potenziale für übergeordnete Fragestellungen in Zukunft noch weiter ergründet werden sollten.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

ABSTRACTS (S. 474)

EDITORIAL (S. 476)

BEITRÄGE

Kai Nowak
Sicherheitsdidaktiken im 20. Jahrhundert
Ein konzeptioneller Aufriss (S. 477)

Henning Tümmers
Die Verwissenschaftlichung des Althergebrachten
Sicherheitsdidaktiken im „Zeitalter der Epidemien“ (S. 482)

Nina Kleinöder
Zwischen Propaganda und Programm
Medien des betrieblichen Unfallschutzes in der Stahlindustrie (1920er bis 1970er Jahre) (S. 500)

Kai Nowak
Vom Vernunftappell zur Verkehrsgewöhnung
Sicherheitsdidaktischer Wandel in der schulischen Verkehrserziehung in (West-)Deutschland 1900 –1980 (S. 517)

Phillip Wagner
Umkämpfte Werte
Politische Bildung und die bedrohte Demokratie im Westdeutschland der 1970erund 1980er-Jahre (S. 537)

Franziska Rehlinghaus
„Den Erfolg sicher machen“
Zur Eliminierung von Kontingenz als Weiterbildungsziel (S. 555)

BERICHTE UND KOMMENTARE

Peter Burschel
„Der Luthereffekt“
Ein Rückblick (S. 573)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Gregor Horstkemper
Von der Feuerwehr zum Katastrophenschutz
Historische Materialien zur organisierten Sicherheit (S.578)

LITERATURBERICHT

Josef Memminger/Dietmar von Reeken
Geschichtsdidaktik, Teil III (S. 581)

NACHRICHTEN (S. 598)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 600)

ABSTRACTS

Kai Nowak
Sicherheitsdidaktiken im 20. Jahrhundert
Ein konzeptioneller Aufriss
GWU 71, 2020, H. 9/10, S. 477–481
Im 20. Jahrhundert nahm Sicherheit einen hohen Stellenwert als Movens politischen Handelns ein. Im Zuge dessen gewannen sicherheitsbezogene Praktiken auch im Alltag an Bedeutung. Sie wurden Zielvorstellung und Lehrgegenstand in Sozialisation und Bildung; spezifische Sicherheitsdidaktiken prägten sich aus. Da Sicherheitslehren in hohem Maß an politische, gesellschafts- und mentalitätsgeschichtliche und bildungsgeschichtliche Kontexte gebunden sind, erscheint es lohnend, nach den historischen Wandlungen von Ansätzen des Lehrens und Lernens in sicherheitsbezogenen Unterrichtsfeldern und ihren methodischen Umsetzungen zu fragen. Wie wurde zu unterschiedlichen Zeiten versucht, die Lernenden zu erwünschten Verhaltensanpassungen im Sinne eines Zugewinns an Sicherheit bzw. der Vermeidung von Risiken zu motivieren? Der Beitrag möchte einen Anstoß geben, Sicherheitsdidaktiken als Konzept sowie als Forschungsgegenstand zu profilieren.

Henning Tümmers
Die Verwissenschaftlichung des Althergebrachten
Sicherheitsdidaktiken im „Zeitalter der Epidemien“
GWU 71, 2020, H. 9/10, S. 482–499
Seit den 1980er Jahren wird das Aufkommen verschiedener Infektionskrankheiten mit einer „Wiederkehr der Seuchen“ assoziiert. Anhand der Beispiele Aids, Antibiotikaresistenzen, Ebola und Coronavirus fragt der Beitrag nach der Entwicklung entsprechender Sicherheitsdidaktiken. Wenngleich er das diffuse Bild einer zwischen neuen und tradierten Persuasionsstrategien changierenden Prävention zeichnet, markiert er zugleich zwei Zäsuren: Demnach etablierten sich in Deutschland um 1900 bestimmte Kommunikationskonzepte, deren Nutzen das bundesrepublikanische Gesundheitswesen acht Jahrzehnte später, auf Basis wissenschaftlicher Theorien, evaluierte.

Nina Kleinöder
Zwischen Propaganda und Programm
Medien des betrieblichen Unfallschutzes in der Stahlindustrie (1920 bis 1970er Jahre)
GWU 71, 2020, H. 9/10, S. 500–516
Der Beitrag zeigt, in welcher Weise die (west-)deutschen Unternehmen der Stahlindustrie der „Unfall“-Frage im 20. Jahrhundert begegneten und auf welche Weise sie versuchten, ihre Mitarbeiter zu erreichen. Dazu wird die Praxis der betrieblichen Sicherheitslehre anhand der Medien der Vermittlung in der Längsschnittperspektive untersucht und die These verfolgt, dass sich der Wandel von einer vornehmlich reaktiven Unfallverhütung zu einer zukunftsorientierten Präventionsarbeit abzeichnete. Sie fügt sich damit in übergeordnete Konzepte der Sicherheits- und Präventionsgeschichte des 20. Jahrhunderts ein.

Kai Nowak
Vom Vernunftappell zur Verkehrsgewöhnung
Sicherheitsdidaktischer Wandel in der schulischen Verkehrserziehung in (West-)Deutschland 1900–1980
GWU 71, 2020, H. 9/10, S. 517–536
Die Massenmotorisierung des 20. Jahrhunderts war begleitet von hohen sozialen und materiellen Kosten. Verkehrserziehung sollte das Verhalten des Menschen an die Erfordernisse einer automobilen Gesellschaft anpassen. Der Beitrag verfolgt die schulische Verkehrserziehung und den Wandel ihrer sicherheitsdidaktischen Grundlagen im historischen Längsschnitt. Er geht von der These aus, dass Verkehrserziehung die an individuelle Mobilität geknüpften Ordnungsvorstellungen moderner Gesellschaften reproduzierte. So operierte die Verkehrserziehung bis weit in die 1960er Jahre hinein in einem Modus der Belehrung und Mahnung. Rasant steigende Unfallzahlen in der Bundesrepublik und ein Paradigmenwechsel in der Verkehrspsychologie führten zur Entwicklung neuartiger Lehrkonzepte und Unterrichtsmaterialien. Die schulische Verkehrserziehung stellte von forcierter Fremddisziplinierung auf Selbstführung und Selbstkontrolle um und setzte nun auf das Mittel der Verkehrsgewöhnung, um die Habitualisierung verkehrsgerechten Verhaltens anzuregen.

Philip Wagner
Umkämpfte Werte
Politische Bildung und die bedrohte Demokratie im Westdeutschland der 1970erund 1980er-Jahre
GWU 71, 2020, H. 9/10, S. 537–554
Anhand der politischen Bildung in den 1970erund 1980er-Jahren fragt der Aufsatz danach, welche Gefahren für die Demokratie diagnostiziert und welche Projekte zur Stimulierung individueller Handlungsmuster aufgelegt wurden, um diese Krisen abzuwenden. Er argumentiert, dass die politische Bildung Demokratie als moralisches Problem betrachtete. Während liberalkonservative Bildungskonzepte ethische Grenzen aufrichten wollten, versuchten Linksliberale mit einer spezifischen Didaktik demokratisch-moralische Denkmuster einzuüben. Mit der Analyse dieser Positionen zielt der Beitrag darauf, oftmals unterbelichtete Widersprüche in der westdeutschen Demokratiegeschichte in ein neues Licht zu rücken.

Franziska Rehlinghaus
„Den Erfolg sicher machen“
Zur Eliminierung von Kontingenz als Weiterbildungsziel
GWU 71, 2020, H. 9/10, S. 555–572
In Anlehnung an die Konzepte von „System-“ und „Selbstsicherheit“ interpretiert der Beitrag den Weiterbildungsboom der 1970er Jahre als eine individuelle Reaktion auf ein gebrochenes Sicherheitsversprechen der staatlichen Bildungsreformen. Dafür wird zunächst beschrieben, wie das „lebenslange Lernen“ in Zeiten der Krise selbst zum Risiko arbeitsbiographischer Sicherheit werden konnte. Anschließend wird am Beispiel eines privaten Weiterbildungsinstitutes herausgearbeitet, mit welchen Lehr- und Lernarrangements die TeilnehmerInnen dazu bewegt wurden, sich selbst als Ursprung von Unsicherheit zu begreifen, um anschließend Methoden ihrer Bewältigung zu erlernen.

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